Das hat´s zu unserer Zeit nicht gegeben ...
Felix Gundacker
Im Unterschied zu vielen Österreichern hatte ich das enorme Glück, alle vier Großeltern lange Zeit zu erleben, ja größtenteils mit ihnen zu leben. Sie erzählten mir viele Geschichten, wie schwierig das Leben war, über den Beruf des landwirtschaftlichen Geräteherstellers (= Holzrechenmacher), über ein Leben ohne Strom und Zentralheizung, Telefon und Auto, über die wenigen Freudentage wie Hochzeiten oder Namenstage und was es gegeben hat und was nicht, in der Strenge der damaligen Zeit. Ihrer Zeit.
Aber war diese Zeit wirklich so? Hat´s das alles wirklich nicht gegeben? Z.B. die unehelichen Kinder? Die Schand´ - wie viel von diesen Geschichten waren Geschichten und wie viel tatsächlich Geschichte?
Als ich schließlich auf dem Hochzeitsfoto meiner Großeltern die ersten Lebenszeichen meiner Mama entdeckte, begann ich die konservative Haltung meiner Großeltern zu hinterfragen. Und stieß auf interessante Fakten, die mein bisheriges Bild etwas korrigierten.
1840, so schreibt Nödl in seinem Buch über „Das unromantische Biedermeier“, kamen 41% aller Kinder in der Österreichischen Reichshälfte unehelich zur Welt. In Graz waren es sogar 60%, auch in Wien 56%. DAS war also die Normalität – nicht das eheliche Kind. Die Menschen hatten ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche, ihre Träume, und lebten sie, natürlich! Nur die Vorzeichen waren andere: Die fehlende Heiratserlaubnis des Arbeitgebers oder einfach nur die erschreckende Armut erlaubten den gemeinsamen Lebensweg nicht. Und so wurden viele Kinder erst durch die später erfolgte Eheschließung der Eltern legitimiert (per subsequens matrimonium est).
Seit 1784 durften aufgrund einer der vielen Verordnungen von Kaiser Josef II. Väter von unehelichen Kindern nur mehr dann in den Kirchenbüchern - die zugleich auch standesamtliche Aufzeichnungen waren - eingetragen werden, wenn sich der Vater in Anwesenheit der Mutter und zweier Zeugen ausdrücklich zum Kind bekannten und die Einschreibung in das Taufbuch auch verlangten. Tat er das nicht, durfte er nicht eingetragen werden.
Und so haben wir oft die weißen Flecken in der Ahnentafel und fragen uns, wer wohl der Vater eines unehelichen Kindes gewesen sein mag. Der Dienstgeber? Oder gar der Graf, weil die Uroma im Schloss gearbeitet hat?
Eines sollte man in der Ahnenforschung nicht machen: spekulieren. Vieles kann man erforschen und einiges wird wohl auch im Dunkeln bleiben. Aber einfach nur annehmen, dass es der Schlossherr war, wäre zu billig – und falsch. Bei 41% unehelichen Kindern hätten „die Grafen“ ganz schön was zu tun gehabt - genauso interessiert an der Köchin war wohl auch der Gärtner. Und wie wir von den Krimis wissen: es war immer der Gärtner!
Felix Gundacker, Genealoge - felixgundacker.at
Wenn die Generationenkette reisst
Wir wollen uns unbedingt selber erfinden. Eine neue Kritik der Moderne diagnostiziert unsere zunehmende Herkunftsvergessenheit. Von Manfred Schneider, Literaturwissenschafter
Im Nachdenken und in der Literatur der Gegenwart ist neuerdings eine besorgte Frage aufgetaucht, die ganz unzeitgemäss klingt: Pflegt unsere postmoderne Moderne eine herkunftsvergessene Lebensform? Die Frage ist überraschend, da eine immer noch wachsende Zahl von Museen, Ausstellungen, Gedenkfeiern, erst recht eine Flut von historischen und kulturhistorischen Werken unablässig unsere Blicke in die Vergangenheit lenkt und zum Nachsinnen über ganz verschiedene Seiten unserer Herkunft einlädt. Ohne Zweifel zeichnet sich unsere Gegenwart durch einen ausgeprägten historischen Sinn aus, bisweilen wird dieser Sinn geradezu im Übermass beansprucht, wie im vergangenen Jahr das Jahrhundertgedenken an den Ersten Weltkrieg. Wir verstehen uns durchaus als Abkömmlinge, als Nutzniesser oder bisweilen auch als Opfer der politischen Geschichte, der Modernisierung, der Technik, des Fortschritts.
Das ist aber nicht die Sorge, die gegenwärtig neu zur Sprache kommt. Wir betrachten uns kaum noch als Abkömmlinge unserer Vorfahren, ihres Wissens, ihres Könnens, ihrer Erfahrung. Wir leben weitgehend ahnenlos, da wir unsere Herkunft im rein genealogischen Sinne vergessen oder verdrängen: Wir sehen uns nicht als die Kinder, Enkel, Urenkel vergangener Generationen; wir betrachten unser Handeln und Denken nicht als Fortsetzung und Modifikation dessen, was unsere Väter, Mütter und älteren Vorfahren dachten und taten. Wir verstehen uns vielmehr als Selfmade-Existenzen, die alles ihren eigenen Fähigkeiten und Tätigkeiten verdanken. Wir empfangen zwar von unseren Vorfahren dankbar die materiellen Güter und Immobilien, die ihr Fleiss und Geschick angesammelt haben. Im Übrigen lassen wir es uns angelegen sein, unsere Welt in einem Prozess dauernder Brüche und Innovationen von ihren Überlieferungen abzukoppeln. Walter Benjamin hat 1933 in einem Aufsatz über «Erfahrungsarmut» diese Haltung verallgemeinert, als er den modernen Künstler und dessen Abkehr von aller Überlieferung beschrieb: «Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.»
Im Dezemberheft des «Philosophie-Magazins» wird diese Frage unter dem Titel «Werde ich meine Herkunft jemals los?» aufgegriffen. Die Frage klingt eher verzweifelt. Doch im Zentrum des Heftes steht ein ausführliches Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk, der in seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch «Die schrecklichen Kinder der Neuzeit» eindrucksvoll die antigenealogischen Tendenzen und Überzeugungen der Moderne enthüllt und kritisiert. Auch in seinen Augen setzt diese Abstammungsindifferenz nicht erst in den letzten Jahrzehnten ein, da wir dazu übergegangen sind, unsere Beziehungen mehr in Netzwerken als in Stammbäumen zu denken, und wo der familienlose, kontaktlose, kinderlose Computer-Nerd als neuer Sozialtyp auftauchte. Einen antigenealogischen Schub beobachtet Sloterdijk bereits in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Shakespeares Tragödie «King Lear» beispielsweise liest er als Drama und Symptom misslingender Filiationen. Shakespeare demonstriere in dem Stück gleich an zwei Vätern, was heute weltweit gespielt werde: «Schreckliche Kinder» treten auf und verlangen als «Erbelose und Illegitime» nach Würden, Chancen und Machtpositionen. Solche Chancen würden seit den bürgerlichen Revolutionen allen Trägern von Leistung und ökonomischem Erfolg in Aussicht gestellt. Eröffnet sei der Weg zur «Selbstnobilitierung». Die Eliten entsprängen dem persönlichen Anspruch. Nicht mehr die Nachfolge, sondern die Karriere führe zu den Leitungsfunktionen der Gesellschaft und im Staat.
Wir betrachten uns kaum noch als Abkömmlinge unserer Ahnen, ihres Wissens, ihres Könnens, ihrer Erfahrung.
Der Erfolgreiche, gleich ob in Politik, Wirtschaft oder Kunst, ist heute der Abkömmling seiner Talente, seiner Ausbildung und seiner Leistungen. Wie in dem 1914 erschienenen phantastischen Roman «Lesabéndio» von Paul Scheerbart, wo die Bewohner eines fernen Planeten ihre Nachkommen wie Trüffeln aus dem Boden ernten, arbeiten sich die Eliten allein aus ihren Fähigkeiten und Begabungen heraus. Diese moderne Trüffelexistenz, die das Menschenleben ursprungslos, ohne Vorgänger, ohne Ahnen, ohne Eltern abrollen lässt, wird offenbar bevorzugt in der Literatur eingeübt. Dort sehen sich die grossen mythischen Helden elternlos in die Welt entlassen wie Henry Fieldings Tom Jones, wie Lessings Nathan der Weise, wie Doktor Faust, Don Juan oder Lord Byrons Manfred. Und erst recht gilt dies für die Heerschar von Waisenkindern in der klassischen Jugendliteratur, von Oliver Twist und Heidi über Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder Tarzan bis zu Pipi Langstrumpf oder Harry Potter.
Als beredter Propagandist dieser elternlosen Herkünfte, die es jedem freistellen, die eigene Verwandtschaft autonom durch beliebige Vorgänger zu besetzen, trat der Philosoph Friedrich Nietzsche auf. 1888 erklärte er in seiner autobiografischen Schrift «Ecce Homo»: «Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein.» Es mag nun ein besonderer Zug Nietzsches gewesen sein, dass er sich eher mit Alexander dem Grossen, Jesus oder dem Gott Dionysos verwandt glaubte; dennoch fasst er eine Haltung in Worte, die sich seit langem abzeichnete.
Doch nun zeigen sich erste, schwache entgegenwirkende Tendenzen. Vor kurzem erschien das kleine autobiografische Buch «Herkunft» des Schriftstellers Botho Strauss. Mit der Frage nach dem eigenen Herkommen blickt der Autor wehmütig zurück auf seine Kindheit und Jugend. Dieser nostalgische Ton des Buches ist ganz und gar ungewöhnlich, um nicht zu sagen: altmodisch. Der Autor erinnert sich nicht nur an die Ähnlichkeiten und Bindungen, die ihn seit den Kindertagen mit den Eltern und ihren Schicksalen verknüpfen. Überhaupt versteht er sein Fortleben so, dass seine autobiografische Erinnerung die «Spur einer Nachfolge, das Relief einer Wiederholung» lege. Er begreift und erzählt, wie er viele Züge des väterlichen Lebens und Scheiterns wiederholt.
Dies ist ein ganz neues Eingedenken, nämlich ein unzeitgemässes genealogisches Erinnern. Während die Autoren der literarisch wichtigen autobiografischen Kindheitserzählungen der letzten hundert Jahre ausdrücklich die eigene Identität infrage stellen und den Bezug zur Herkunft und Familie kappen, sieht sich hier ein bedeutender Autor ausdrücklich als Nachkomme, der viele Eigenarten, Vorlieben und biografische Episoden aus dem Leben des Vaters unbewusst nachlebte. Dagegen wird in den Kindheitserinnerungen von Walter Benjamin, Gertrude Stein, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, Thomas Bernhard, Max Frisch oder Elfriede Jelinek die Frage «Wer bin ich?» nicht mit Blick auf die Eltern, auf eine Herkunftslinie oder Ahnenreihe beantwortet, sondern durch eine künftige Geschichte, die erst das Leben oder gar nur die Literatur selbst erzählen werden.
Nicht nur Peter Sloterdijk oder Botho Strauss greifen die Frage der Herkunft wieder auf. Zu den Autorinnen und Autoren, die sich von dem filiationsgleichgültigen Erzählen abkehren, gehört auch die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, die vor kurzem ihren Roman «Nachkommen» veröffentlicht hat. In diesem Roman, der vor allem als kritischer Insider-Blick in den deutschen Literaturbetrieb empfohlen wurde, begegnet die Erzählerin überraschend ihrem ungekannten, von der Mutter «verstossenen» Vater. Und sie begreift, dass dieser unbekannte Mann körperlich und genealogisch ein wichtiges Stück ihrer selbst ist. Nachdem sie im Gang der Erzählung immer wieder rituell und gleichsam ergebnislos in verschiedene Spiegel geblickt oder misslungene eigene Fotos betrachtet hat, schaut sie im Gesicht des Vaters in ihre eigenen Augen. Damit leitet sich kein glückliches Wiederfinden ein; vielmehr wird der Erzählerin klar, welche Erfahrungen mit dem unvermeidlichen Scheitern dieser Wiederbegegnung dahingegangen sind.
Ein dritter Kronzeuge dieser zeitgenössischen Sorge um unsere genealogische Bindung an die Vergangenheit ist der französische Psychoanalytiker und Rechtshistoriker Pierre Legendre. In seinen Büchern verweist Legendre immer wieder auf die anthropologische Ordnung, die jedem Menschen einen Platz in einer Ahnenreihe zuweist und ihn zum unersetzlichen Glied in dieser Überlieferungskette erhebt. Allein das Bewusstsein, Teil einer das eigene Leben übergreifenden Traditionslinie zu sein, mache soziales Leben überhaupt möglich. Diese Reihe der Vor- und Nachfahren verbindet Namen, Normen und Erzählungen; nicht aber Leiber, die trüffelgleich aus dem Boden kommen oder wie Athene dem Haupt des Zeus entspringen.
Das Bewusstsein, Teil einer das eigene Leben übergreifenden Traditionslinie zu sein, macht soziales Leben überhaupt möglich.
Die eben machtvoll einsetzende Herrschaft der Genetik und Biologie, die unsere Zukunft in Samenbänken und «social freezing» sichern wird, ist nicht unter moralischen Gesichtspunkten problematisch, sondern als ein weiterer Schritt zur Auflösung des genealogischen Bandes. Der Take-off der Reproduktionsmedizin, die jedem Erwachsenen, in welchen Verhältnissen und Beziehungen er auch leben mag, die Möglichkeit eröffnet, Kinder zu zeugen, zu adoptieren, durch Leihmütter zu erwerben und sich dabei aller Mittel zu bedienen, die Wissenschaft und Technik zur Verfügung stellen, beschleunigt den Ruin dieser alten genealogischen Ordnung.
Die moderne Gesellschaft hat gute Gründe, vor allem Rechts- und Gerechtigkeitsgründe, die alten Institutionen der Ehe, der Familie, der Geschlechter und der Familiennamen zu beseitigen. Aber die Freiheitsprinzipien und Werte, unter die sich die Staaten und Gesellschaften vor 250 Jahren stellten, segnen inzwischen eine Hypermoderne ab, in der Technik und Evolution ganz neue Lagen und Wirklichkeiten hervorbringen. Aus Treue zu den Grundsätzen der Aufklärung sieht die gegenwärtige Gesellschaft ohnmächtig der Erosion sinnvoller Traditionen zu, auf deren Autorität sie eigentlich beruht. Unsere auf Genetik und Biologie einschwenkende Kultur der Fortpflanzung bezeichnet Legendre mit einem gewissen Recht als «Metzgerkonzeption der Filiation». Es ist Fleisch, das Fleisch erzeugt, das aus seiner genealogischen Verankerung gerissen wird. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in Deutschland den Kindern, deren Väter bisher nur als Samenbankenspuren firmierten, das Recht eingeräumt, den Namen ihres Vaters zu erfragen. Das Geschäft der Samenbanken wollte begreiflicherweise seine Spender vor genealogischen Folgen, nämlich Unterhalts- und Erbansprüchen, schützen.
Die Kinder sollen nicht damit belästigt werden, Grabsteine errichten und Friedhofsgärtner bezahlen zu müssen.
Bereits das römische Recht kannte die künstlichen Vaterschaften, nämlich die Adoption, und bezeichnete sie als «fiktive» Elternschaft. Inzwischen jedoch nehmen diese Eltern-Fiktionen überhand, und in einem Zug damit erodieren die natürlichen Elternschaften und deren moralische Verbindlichkeiten. Viele Ältere wollen inzwischen ihre Kinder und Verwandten vor den Unannehmlichkeiten bewahren, ihrer gedenken zu müssen, indem sie sich dazu entschliessen, anonym oder spurlos im Meer beerdigt zu werden. Die Kinder sollen nicht damit belästigt werden, Grabsteine zu errichten und Friedhofsgärtner bezahlen zu müssen.
Gibt es wirklich Grund, den Verlust der alten genealogischen Ordnung zu bedauern? Und hat eine solche Betrachtung Sinn, da doch der Weg in die alte Welt verrammelt ist wie der Weg zurück ins Paradies? Es lohnt sich aber doch, einige der Verluste zu bilanzieren und neu zu überlegen, welchen Kräften wir die Zukunft überlassen. Die genealogischen Überzeugungen der Vergangenheit hat der deutsche Soziologe Georg Simmel 1907 in einem Aufsatz mit dem Titel «Das Erbamt» rückblickend beschrieben. Noch einmal arbeitete er heraus, warum die alte Welt, in der Staatsämter und Ehrentitel erblich waren, auch eine für jene Vergangenheit sinnvolle Ordnung hervorgebracht hat. Ausgehend von der Frage, wie eine Gesellschaft durch den natürlichen unvermeidbaren Wechsel der Personen und Generationen hindurch ihre Identität, ihre Substanz und ihr Wissen stabil hält, beschreibt Simmel die feudale Ordnung, in der häufig ein Sohn das Amt des Vaters übernahm, als durchaus vernünftige genealogische Konstruktion: «Die vererbte wie die anerzogene Ähnlichkeit lässt eine Substanz ahnen, die gleichsam durch den Vater und den Sohn hindurchgeht und, an sich stabil, von diesen verschiedenen Subjekten nur irgendwie unterschiedlich modifiziert wird.»
Dies klingt in der Tat überholt, ja für unsere Moderne geradezu skandalös, lässt aber ein Problem erkennen, das sich an vielen Stellen in der gegenwärtigen Gesellschaft artikuliert, dass nämlich der Wandel, vor allem der verlangte, geforderte, erzwungene Wandel, der unablässige Zwang zu Innovation, diese Substanz aufzehrt und ein rein materielles Gesellschaftswesen zurücklässt, das sich nur noch in Begriffen der Ökonomie und Effizienz beschreiben kann und das sich unter dem Befehl ökonomischer Rationalität immer wieder von einer traditionsgeleiteten Gegenwart zu trennen gezwungen sieht. Auf der Suche nach Optimierungen geht nicht nur das persönliche genealogische Band verloren, sondern gehen alle Herkünfte verloren, auf denen eine Gesellschaft und eine Kultur einmal beruhten.
Denn die genealogische Sorge richtet sich nicht allein auf die persönliche und familiale Herkunft, sondern auch auf die Herkunft unserer Werte und Normen. Auch hier war es Friedrich Nietzsche, der mit dem Hammer philosophierte und in seiner «Genealogie der Moral» ein neues Konzept des Genealogischen errichtete, indem er die Werte und moralischen Prinzipien der modernen Gesellschaft aus fragwürdigen Quellen herleitete und damit infrage stellte. Auf der anderen Seite kann man bei Pierre Legendre lernen, dass es gar nicht darauf ankommt, ob die Texte und Autoritäten, auf denen eine Kultur ihre Werte und Rechtsformen errichtet, im Einzelnen immer einer kritischen Prüfung standhalten. Die vielzitierten Gründungsväter und -mütter der westlichen Werte und Überzeugungen, ob es Sokrates, Jesus, der Apostel Paulus, Augustinus, Luther, Rousseau, Benjamin Franklin, Kant, Friedrich Engels oder Hannah Arendt waren, haben gewiss auch vielfach geirrt und würden vermutlich heute weder Bischof noch Präsident oder Nobelpreisträger werden. Sie gehören aber in unsere Ahnenreihe, und daraus kann man sie nicht hinauswerfen, wie man auch im eigenen Stammbaum einen Urgrossvater nicht streichen kann, weil er vielleicht im Zuchthaus gesessen hat. Es gilt, das neue Nachdenken über die Herkunft und den Wert der Erfahrung aufzugreifen und über die Lebensformen, die wir aus Überzeugung geschaffen haben, immer wieder nachzudenken. Oder, um ein Wort von Peter Sloterdijk zu zitieren: «Es könnte nicht schaden, sich in der verlernten Kunst des Dauerns zu üben.»
Manfred Schneider ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 2013 ist im Verlag Matthes & Seitz sein Buch «Transparenztraum» erschienen.