Die Geschichte des Bauernlandes ist daher niemals zu trennen von der Geschichte der Kirchensiedlung, des geschlossenen Marktwesens. Als die Bauern im Aufstand des „Haager Bundes" marschierten, taten die Bürger mit. Und was der Jahresablauf dem Bauern brachte, bewegte auch jeden Bürger und Inwohner im Markte. Ähnlich ist es auch heute noch, die Erhebung Haags zur Stadt (1932) tat hierin keinen Abbruch.
Brauchtum im Jahreslauf
Zu Kathrini wird Abschied vom scheidenden Kirchenjahr genommen. Abwechselnd im Gasthause Reitter oder Forstmayr findet sich das Volk zum Kathrinitanz ein. In der Adventzeit bäckt die Bauersfrau und jede andere Hauswirtin das schmackhafte Kletzenbrot, ein Früchtebrot, hauptsächlich aus gedörrten Zwetschgen bestehend. Am St.-Barbara-Tag werden Kirschenzweiglein abgeschnitten und im warmen Zimmer ins Wasser gestellt. Bis Weihnachten sollen sie blühen, das ist gute Vorbedeutung fürs kommende Jahr; am Ende heiratet gar die Tochter des Hauses.
In den letzten Tagen vor dem Christfest werden jetzt wieder mehr die Krippen aufgestellt und beachtet. Kommt die Familie und das Hausgesinde am Heiligen Abend nach der Mette heim, dann werden sie zum stärkenden „Krenfleisch" oder auch zum „Bratwürstel" eingeladen. Selbst das Vieh soll es in dieser heiligen Zeit gut haben: am Weihnachtstag bekommt es in einigen Häusern noch einen „Knödelsterz"; und auch der Toten wird gedacht, an ihre Gräber werden Christbäume gestellt; allerdings ist dies kein alter bäuerlicher Brauch, sondern mehr eine Sache der Stadtleute. Vom Turme aber erschallt in der Weihnacht der Chor der Bläser, in der Neujahrsnacht ertönen Böllerschüsse.
Das Dreikönigs- und Sternsingen, das beinahe schon abgekommen war, erfährt zur Zeit wieder seine Belebung, ähnlich wie auch die Faschingszüge von Haus zu Haus sich wieder mehr einbürgern.
Zu Lichtmeß müssen die Dienstboten seit altersher wandern, wenn sie aufgekündigt haben, was meist schon zu Allerheiligen geschieht. Eine große Freude für jung und alt stellt dann im Fasching das „Gasselfahren" dar, eine Schlittenfahrt mit einem vorgespannten Rosse. Schmilzt der Schnee, beginnt bald darauf das Suchen nach Palmbuschen, aufblühenden Weidenzweigen, die für die Prozession am Palmsonntag benötigt werden. Wenn dann am Gründonnerstag die Kirchenglocken „nach Rom geflogen" sind und ihre metallene Stimme schweigt, müssen die Ministrantenbuben „ratschen" gehen; und schon beginnt die Suche nach den Ostereiern, den roten, blauen und buntgefärbten, die in den grünenden Wiesen zwischen dem neuen Gras lustig hervorgucken.
Wer ein Taufkind hat und Göd oder Gödin (Pate oder Patin) ist, muss sich für Ostern ein großes Osterkipfel besorgen, das einen halben Meter im Durchmesser hat. Die „Godenkinder" werden gewiss kommen und es sich holen, wobei sie auch einen guten Schmaus erwarten. Es ist dies ihr „Ahnlsonntag". Fleisch von Lämmern und Kitzerln erinnert die Erwachsenen an das Paschafest des Alten Bundes.
Besondere Gebäcksformen kennt unser Volk überdies noch beim Heimsuchen einer jungen Mutter. Hat sie ein Mädchen zur Welt gebracht, dann musst du ihr ein großes Kipfel, hat sie einen Buben, dann einen stattlichen geflochtenen Striezel bringen! Dies sind wohl noch Überreste aus der heidnischen Zeit und ihrem Geschlechtskult.
Aber das Christentum hat alles, was Natur, Fruchtbarkeit, Erde und Boden bedeutet, seit Jahrhunderten mit göttlichem Segen überschüttet. Am 24. April wird die Erde geweiht; es ist Georgitag Kirchweih (Kirmeß) in Haag; nur wird er kaum mehr im alten Umfange gefeiert und ist kein richtiges Haager Fest, nur ein von Klingenbrunn nach Haag verlegter Jahrmarkt. Der Markustag mit seiner Prozession bringt eine neuerliche Segnung des Bodens und seines Wachstums; nun kann den Kindern die feuchte Erde nicht mehr schaden, und sie dürfen barfuß (bloßfüßig) auf den Wiesen laufen und hüpfen.
Am ersten Mai steht der Maibaum mit einem Kränzel an seiner Spitze; noch ist die Hauptarbeit des Bauernjahres nicht angebrochen, noch ist die Zeit der Feste. Zu St. Florian rückt die Feuerwehr zum Kirchgang aus. Haags Schmiede und Binder verehren in gleicher Weise ihren Patron, dessen Statue am Musikchor der Haager Kirche steht, zum Troste die Wasserschale in der Hand haltend.
Zur Sonnenwende (am St.-Johannis-Tag) und zu St. Peter und Paul leuchten vom Gebirge her die Sonnwend- und Petersfeuer; auch Haags Jugend übt den Brauch und setzt im kühnen Sprung über das lodernde Feuer - „Sonnawendkrapfen" duften im Bauernhaus nicht fehlen.
Die Erntezeit naht, die schwere Zeit, in der der Tag um halb vier Uhr beginnt und abends um neun Uhr erst endet. Vielfach arbeiten die Bauern noch in gewohnter Nachbarshilfe, vor allem aber beim Drusch. Für die Schnitterleute gibt es wiederum Krapfen, die „Schnitterkrapfen", zumindest dort, wo der Brauch noch nicht anspruchsvollerem Gastmahl gewichen ist. Wer zuletzt mit dem Schnitte fertig wird - es muss nicht gerade aus Bequemlichkeit sein - wird unbarmherzig mit der „Habergeiß" beehrt, einer ausgestopften Strohpuppe, die die Burschen der Nachbarschaft auf den Dachfirst des Verspotteten stecken.
Im August, beim Schnittertanz in einem Gasthaus, feiern sie alle wieder Versöhnung, der Ausgespottete und die Spötter. Ausgedroschen wird nicht gleich; das Getreide wird erst eingeführt, und oft ist die Sorge groß, es gut und trocken einzubringen; denn das Haager Land ist im Verhältnis zu anderen mitteleuropäischen Landstrichen ziemlich niederschlagsreich. Erst im Spätherbst werden mehrere Haus- und Druschgemeinschaften gebildet; nicht jeder Bauer hat seine eigene Dreschmaschine, wenn auch sonst die Umstellung auf maschinellen Betrieb in der Bauernwirtschaft seit dem Jahre 1948 stark im Gange ist. Das Tanzen und Krapfenessen beim Dreschen, das nur mehr ganz kurz dauert, kommt eigentlich schon stark ab.
Die schönste Zeit des Jahres beginnt um den Sankt-Michaels-Tag in seltener Bläue erstrahlt um diese Zeit der Himmel, aller Dunst, der so oft über dem schweren Lande liegt, scheint mit beginnendem Herbste weggefegt zu sein. Deutlich erheben sich die Berge am Horizont; das Land davor, die Haager Hügelwelt, ist ein einziger Obstgarten, in dem die Äpfel- und Birnenernte allmählich einsetzt. Der „Kirtag" zu St. Michael ist freilich kein sehr umfangreiches Fest (29. September), obwohl der heilige Erzengel unser Kirchenpatron seit Anfang an ist. Vor 80 Jahren noch endeten diese Kirtage meist mit großen Raufereien, bei denen Blut floss Pfarrer Seeland musste einst mit dem Allerheiligsten die Raufenden auseinander zwingen.
Im Oktober heißt es aufpassen für den, der am Feldrain und auf Wiesenwegen entlang geht; überall liegen die Mostäpfel und Mostbirnen unter den Bäumen, und da sich die Bäume in langen Zeilen reihen, heißt das, dass man überall auf die unscheinbaren, bitter-sauren Früchte treten, sie zerquatschen und dabei ausrutschen kann. Zum Essen sind diese Gaben der Natur beileibe nicht; in den Mostpressen ausgequetscht, ergeben sie aber zunächst ein süßliches, sehr die Verdauung förderndes Fruchtgetränk, das auch den Kindern wohlbekommt. Einmal vergoren, weist unser Most geringe Grade Alkohol auf und ist der Jugend nicht sehr zu empfehlen. Wer jedoch behauptet, dass wir Mostviertler durch den täglichen Genuß unserer Äpfel- und Birnenmoste - besonders im Bauernhaus gehört zu jeder Speise auch der Trunk, der Mostkrug - in unserer geistigen Entwicklung behindert werden, behauptet etwas, was er nicht beweisen kann. Denn gerade, was Schläue und geistige Regsamkeit betrifft, was stilles Sinnieren, Nachdenklichkeit und lebensnahe Weisheit anbelangt, da lässt sich der Mostviertler nicht so leicht schlagen.
Die schönen Tage sind mit Allerheiligen vorbei. Noch einmal schickt die Gödin einen Striezel, den Allerheiligenstriezel, ihrem Patenkinde ins Haus. Die Verpflichtungen des Taufpaten oder der -patin gehen jedoch nicht das ganze Leben hindurch; mit dem Austritt des Kindes aus der Schule werden sie häufig beendet, das „Ausgwanden" (Ausstatten mit einem Gewande) setzt hierin den Schluss.
Die Stadt als Mittelpunkt
Seit einem Jahrhundert geht die Haager Pfarrgemeinde am Nachmittag des Allerheiligentages in geschlossener Prozession zum Friedhof hinaus, wo für die Toten gebetet wird; Kerzenlichtlein im Glassturz werden ihnen an die Gräber gestellt, der ganze Friedhof ist die Nacht hindurch feierlich erleuchtet. Heißt es von einem Toten Abschied nehmen, dann versammeln sich die Anverwandten und Freunde zur Totenzehrung im Gasthause, bei der auch die traditionelle Totensemmel nicht fehlen darf.
So hat alles im Jahresablauf, Geburt und Tod, seinen bestimmten Platz. Die Streusiedlung hat es mit sich gebracht, dass im räumlichen Mittelpunkt und das ist meist die geschlossene Stadtsiedlung die Zusammenkunft der Verwandten erfolgt. Taufmahl, Totenmahl und Hochzeiten werden daher gerne in einem Gasthaus, im Saal oder im Extrazimmer, gehalten. Bei Hochzeiten der größeren Bauern gibt es da oft an die 120 Gäste oder mehr.
Die Tatsache, dass man so selten zusammentrifft, hat auch eine weitere Eigenart der Haager ausgebildet: nach dem Gottesdienste stehen die Leute gerne am Hauptplatz vor der Kirche beisammen, um sich zu besprechen. Sie heißen daher auch die „stehenden Haager", zum Unterschied von den "rennenden Valentinern" und den "schauenden Hannsern" aus St. Johann.
Charakteristik des Haagers
Das Hauptmerkmal in der Charakteristik des Haager Volkes zu treffen, ist jedoch sehr schwer. Der Menschenschlag hier liebt nicht das Auffallende, in die Augen Springende; er geht am liebsten seine Mittelstraße und hat seinen Sinn aufs Praktische, Nächstliegende im Alltag gerichtet. Von politischen Schlagworten lässt sich der Haager Bauer nicht leicht verführen; er hat dies in der Zeit der Bauernaufstände wie in den politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts deutlich bewiesen. Es ist auch auffallend, dass ganz große Genietaten wie große Verbrechen in Haag nicht zu Tage gebracht werden; jedes außergewöhnliche Verhalten liegt uns eben nicht. Hingegen gab es zu allen Zeiten in Haag viele Talente, viel Freude am Studieren. Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft und eine gewisse Liebe auch zu den Künsten machen Haag heute zu einem guten Boden für Veranstaltungen des Bildungswerkes.
Ausgeglichen wie sein Charakter ist auch die Wirtschaft des Haager Bauern; neben dem Ackerbau erscheint die Viehzucht genau so intensiv betrieben, freilich nicht in der Almwirtschaft, sondern in der Stallfütterung das Jahr hindurch. Fast alle Zweige der bäuerlichen Wirtschaft mit Ausnahme des Weinbaues sind bei uns vertreten.
Auf sein Bauerntum ist der Haager stolz; sein Hof ist ihm wie ein Königssitz, und die Wirtschaften sind auch durchschnittlich groß und sehr ertragreich. Das Vätererbe wird noch hochgehalten und im gesunden Besitzerstolz gepflegt. Daraus leitet sich auch die Vorliebe für alles ab, was einst das Volk von Haag erlebt und erlitten hat, wie sich der Hof vererbte, der Markt und die spätere Stadt wuchs. Wenn auch in jüngeren Zeiten andere Ortschaften unseres politischen Bezirkes über Haag hinausgewachsen sind, so weiß der Haager dennoch von der Bedeutung seiner weiträumigen Gemeinde mit ihrem Flächeninhalt von 54½ Kilometer im Quadrat und ihren rund 4600 Einwohnern.
Haags Rolle in der Geschichte
Und tatsächlich hat Haag auch immer eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte des oberen nö. Mostviertels gespielt. Von den Zeiten der ersten Kolonisation an ist der Strom der österreichischen Geschichte nie mehr an Haag vorbeigegangen, sondern hat es immer mitberührt. Dadurch wird das lokale Geschehen in diesem Orte zur Geschichte eines fast typischen niederösterreichischen Marktes, ja zur Geschichte eines der älteren Märkte, eines Ausgangspunktes des österreichischen Volkes überhaupt. Bajuwarisch im Kern und im Wesen ist Haag seit seinen ersten Zeiten. Als Österreichs Wiege, die ottonische Markgrafschaft, ihren Namen Ostarichi erhielt, lag Haag schon in Ostarichi, und so hat dieser Ort von Anfang an alles Österreichische mitgefühlt und mitgemacht. Wer den Haager und seinen Stolz auf seine Heimat verstehen will, muss sich in die vieffältigen Schicksale seiner Vergangenheit, einer österreichischen Vergangenheit, vertiefen.